Partner im RedaktionsNetzwerk Deutschland

LUIS BACKHAUS (6. Klasse):


Der Junge ohne Namen


Der Junge wachte auf. Er lag auf einem kalten Steinfußboden und sah praktisch gesehen gar nichts. Er fasste sich an den Kopf, der ungewöhnlich stark schmerzte. Mit einem lauten Stöhnen versuchte er sich aufzurichten, aber in seinem Schädel dröhnte es zu sehr. Er fuhr sich durch das dichte schwarze Haar und bemerkte eine große Beule, die sich auf seinem Hinterkopf gebildet hatte und höchstwahrscheinlich ziemlich dämlich aussah, was der Junge allerdings nicht sehen konnte. Der Junge versuchte erneut aufzustehen und diesmal gelang es ihm. Er hielt sich an der kahlen glatten Steinmauer fest. Und in diesem Moment ging ihm das erste Mal die Frage durch den Kopf, die den meisten von uns schon die ganze Zeit durch den Kopf gegangen wäre. „Wo bin ich“ fragte sich der Junge laut und sein Echo hallte durch den Raum, in dem er sich befand. Der Junge blickte um sich und sah, dass er sich in einem Raum befand, der in etwa der Größe einer Turnhalle entsprach. Ganz drüben, an der anderen Seite des Raumes, machte der Junge ein kleines Licht aus, das er bis dahin noch nicht wahrgenommen hatte. Als er ein bisschen näher kam, merkte er, dass das kleine Licht ein Notausgangsschild war, das von hinten beleuchtet wurde. Der Junge sah auf den Platz unter dem Hinweisschild und bemerkte eine Tür, die in der gleichen Farbe gestrichen war wie die Steinwände, die ihn umgaben, weswegen er die Tür bis dahin nicht bemerkt hatte. Er drückte vorsichtig die Klinke hinunter und versuchte die Tür zu öffnen. Als er hinaustrat, sah er den Mond hoch am Himmel stehen. Es war Vollmond. Er blickte hinter sich und sah auf das Gebäude, in dem er sich gerade noch befunden hatte. Es sah klein aus. Zu klein. Das Gebäude war nicht größer als eine Studenten-Wohnung, und glich nicht im Geringsten dem Raum, in dem er sich gerade noch aufgehalten hatte. Der Junge schüttelte den Kopf und wandte sich wieder seiner jetzigen Umgebung zu. Er schaute sich um und erkannte, dass er sich auf einer Lichtung befand, die gerade jetzt bei Vollmond bestimmt großartiges Material für Fotos liefern musste. Die Lichtung war bedeckt mit Brombeerplanzen, Rosenbüschen und klein gewachsenen Bäumen. Der Junge ging ein paar Schritte und versuchte herauszufinden, wo er sich genau befand. Er brauchte nicht lange, um zu merken, dass er mitten in einem Wald stand. Er ließ sich auf den nächsten, mit Moos bewachsenen Stein fallen und dachte nach. Wo war er? Woher kam die Beule auf seinem Hinterkopf, wie war er hierhergekommen? Und was sollte er jetzt machen? Jegliche Erinnerung - falls er eine hatte - schien ausgelöscht. Der Junge grübelte, was für logische Erklärungen es geben könnte, aber ihm fiel keine ein. Desto länger er nachdachte, desto mehr wurde ihm klar, wie absurd die Situation war, in der er sich befand. Außerdem wurde ihm mit der Zeit klar, dass er sich bislang nur darüber Gedanken gemacht hatte, wo er war und wie er hierhin gekommen war. Jetzt erst begann er sich zu fragen, wer er war und wo er hingehörte. Und wie hieß er? Der Junge hatte nicht die leiseste Ahnung, wer seine Eltern waren, wie sie hießen oder ob er Geschwister oder Haustiere hatte, wie sein Gesicht aussah oder wie alt er war. Er hatte keine Erinnerungen. Und trotzdem war er imstande zu denken, sich zu bewegen und - wie er mit einem lauten „Hallo“ herausfand - auch zu sprechen. Der Junge dachte, dass er vielleicht jemanden erkennen würde, falls er jemanden sehen würde, aber wen denn bitte? Plötzlich bekam der Junge Angst. Auch dieses Gefühl hatte er bisher nicht empfunden. Warum jetzt plötzlich die Angst in ihm hochkroch, konnte er sich nicht erklären. Der Junge versuchte sich klarzumachen, dass er jetzt logisch denken musste. Rumheulen würde nichts bringen. Einfach logisch bleiben, dachte der Junge. Leider war das einfacher gesagt als getan. Der Junge fühlte nach weiteren zehn Minuten, in denen er regungslos auf seinem Stein gesessen hatte, dass die Kälte sich in ihm breit machte. Er hatte keine Jacke an, weshalb er ungewohnt stark fror. Das war an sich nicht besonders verwunderlich, denn er trug nur ein schwarzes T-Shirt. „Ich renne jetzt einfach“, dachte der Junge laut. „Ich renne, bis ich aus diesem dämlichen Wald raus bin.“ Er wusste nicht, was er sich aus dieser Aktion versprach. Vielleicht ja eine Autobahn, dann könnte er irgendwen anhalten. Oder eine Stadt, oder ein Dorf. Die letzte Lösung gefiel ihm ganz besonders gut. Also rannte er, bis er keine Luft mehr kriegen konnte. Der Junge wartete ein paar Minuten, dann rannte er weiter. Nach zehn Minuten war er so viel gelaufen, dass er dachte, er hätte bereits Kilometer hinter sich gelassen. Nach zwanzig Minuten war er komplett außer Atem, raffte sich aber erneut auf und fing wieder an zu laufen. Nach einer halben Stunde fühlte er nichts mehr. Nicht seine Füße, nicht seine Beine, nicht seine Arme. Sein Gehirn hatte aufgehört zu denken. Dem Jungen war jetzt unglaublich heiß. Er fiel auf den Boden und sackte in sich zusammen. Er konnte nicht mehr, und er wäre auch bestimmt nicht weiter gerannt, wenn er nicht plötzlich ein kleines Licht wahrgenommen hätte. Der Junge versuchte aufzustehen, was ihn eine unglaubliche Kraft kostete. Also lief er weiter. So weit, dass das Licht nun größer war. Nicht so groß, dass er es hätte identifizieren können, aber doch größer. Der Junge betrachtete das als Erfolg. Vielleicht war da vorne doch eine Straße. Als er noch ein paar Schritte gegangen war, stellte er fest, dass es keineswegs eine Straße war, sondern nur eine alte Taschenlampe, die in den Wald hineinleuchtete. Der Junge hob sie auf und betrachtete sie. Da sie noch leuchtete, musste sie noch nicht lange dort liegen. Während der Junge noch nachdachte, wem die Lampe gehören konnte - auch wenn ihm klar war, dass er dies nicht herausfinden konnte - sagte hinter ihm eine Stimme: „Pardon, das ist meine.“ Der Junge wäre vor Schreck fast hintenübergekippt. „Oh, Sorry.“ Sagte der Junge vorsichtig. „Macht nichts.“ Sagte der Mann mit einem freundlichen Blick. Der Junge musterte den Mann mit prüfendem Blick. Er hatte kurze schwarze Haare, buschige Augenbrauen und trug trotz der Dunkelheit eine Sonnenbrille. Er war glattrasiert und hatte einen kleinen Mund, der zwar lächelte, den Mann aber dennoch unsympathisch wirken ließ. Der Mann hatte einen kleinen Hals und trug ein weißes T-Shirt, unter dem sich anscheinend ein Haufen Muskeln verbargen. Der Mann hatte ein riesiges Kreuz, was ihn noch muskulöser wirken ließ. Zu alldem gesellte sich eine kurze schwarze Hose und Sneaker, die vielleicht einmal weiß waren, deren ursprünglichen Farbton man aber nicht mehr sehr gut erkennen konnte. Alles in allem machte der Mann den Eindruck, dass man sich im Hochsommer befand, was an sich auch möglich gewesen wäre, aber momentan waren es höchstens fünf Grad Celsius. „Ist etwas?“ fragte der Mann, weil der Junge ihn mindestens eine Minute gemustert hatte. „Was? Ach so, nein.“ Sagte der Junge. „Ich habe mich nur ein bisschen erschreckt.“ „Das tut mir leid.“ sagte der Mann höflich und musterte nun den Jungen. „Wie heißt du?“ fragte der Mann. „Ähm.“ Der Junge räusperte sich. „Ich heiße… Julian.“ Er wusste nicht, warum ihm dieser Name einfiel, oder warum ihm überhaupt Namen einfielen, aber er hatte den Namen so schnell ausgesprochen, dass er es jetzt nicht mehr zurücknehmen konnte. Der Mann sah ihn verwundert an, so als wüsste er, dass dies nicht stimme, aber er sagte nichts. „Julian also. Ein schöner Name.“ „Und sie?“ fragte der Junge. „Ich bin…“ Der Mann dachte nach. „…Sebastian.“ Es fiel dem Jungen schwer dem vermeintlichen „Sebastian“ zu glauben, aber er hatte ja auch nicht die Wahrheit gesagt, auch wenn das ja einen ernsten Grund hatte. „Was machst du hier?“ fragte der Mann. Der Junge dachte, dass es höchstwahrscheinlich keinen Sinn machte weiterhin zu lügen, deshalb sagte er: „Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wer ich bin, wo ich herkomme oder wo ich hingehöre. Ich heiße nicht Julian und kenne meine Eltern nicht. Ich verfüge über Wissen, aber nicht über Erinnerungen.“ Als der Junge fertig war, sah der Mann ihn eine ganze Weile an. Mindestens drei Minuten stand der Mann dort und sah dem Jungen regungslos beim Nichtstun zu. „Ja, das habe ich befürchtet“, sagte der Mann. „Bei mir war es genauso.“ Ich lebe hier seit mehreren Jahren. Im Gegensatz zu dir weiß ich aber meinen Namen.“ Im Inneren des Jungen machte sich Unruhe breit. „Seit ein paar Jahren sind sie schon hier?“ fragte der Junge. „Ja“, antwortete der Mann. „Und es gibt keinen Ausweg aus diesem Wald?“ fragte der Junge. „Nein“, sagte der Mann. „Was glaubst du, wie oft ich das schon probiert habe.“ Dem Jungen wurde erst heiß, dann kalt und dann wieder heiß. „Ich will hier raus“, rief er. „Das wollen wir alle“, sagte er. „Wir?“ fragte der Junge. „Ja, komm mit“ sagte der Mann und setzte seinen kräftigen Körper in Bewegung. Sie gingen einige Minuten, dann kamen sie an ein altes Haus. Von Innen drangen dumpfe Stimmen hervor. „Dort drinnen sind etwa zwanzig andere Menschen, und sie erzählen alle die gleiche Geschichte. Ich wette, du wirst uns auch erzählen, dass du in einem dunklen Raum aufgewacht bist, ohne Erinnerung und ohne Vorstellung, wo du sein könntest.“ „Ja“, sagte der Junge verwundert. „Komm rein.“ sagte der Mann. Der Junge folgte ihm ins Innere des Hauses. Kaum war er eingetreten verstummten alle Gespräche um ihn herum. Der Junge sah sich um. Ein seltsamer Anblick bot sich ihm. Um ihn herum saßen Kinder, Erwachsene und Jugendliche. Alle sahen ihn an. „Er bringt nichts Neues“, sagte Sebastian und ging an den Gestalten vorbei, die sich allmählich wieder ihren Gesprächspartnern zuwandten. Da das Haus etwas höher gelegen war, konnte der Junge den Wald überblicken. Der Wald war so lang, dass der Junge sein Ende kaum sehen konnte und da, wo der Wald aufhörte, war nichts, nicht einmal Bäume. „Aber“, sagte der Junge. „Ich weiß“, sagte Sebastian… Ende