ANNIKE ZUSKE (12. Klasse):
Mein Kaffee starrt mich an wie ein Witz, dessen Pointe ich vergessen habe. Eine beachtliche Leistung, in vielerlei Hinsicht, denn Kaffee starrt nicht und Merith vergisst keine Witzpointen. Äußere Situation: müde. Innere Situation: verwirrende Gedankengänge; ein unschuldiger Kaffee wird personifiziert und eine hilflose, wenn auch vergessene Witzpointe Opfer metaphorischer Ansätze. Einfache Sache. Im Radio läuft "Screaming Suicide" von Metallica. Ich beobachte gelangweilt die Tasse und nicke mit dem Kopf zur Musik. Mir fällt auf, dass ich dabei vielleicht aussehe wie eine sehr missgelaunte Taube und höre schnell wieder auf. Ich bin noch ganz schlaftrunken. Es ist halb fünf. Gregor Samsa wacht eines Morgens auf und ist ein Käfer. Warum? Hinterfragt er nicht. Danke Kafka. Merith wacht morgens auf und ist ein Mensch. Warum? Hinterfragt sie, weil Menschen das tun. Wunderlich. Ich betrachte die hellen Milchkreisel im Kaffee. Sie sehen jetzt nicht mehr aus wie Augen (was bedeutet, dass der Kaffee mich nicht mehr anstarrt), sondern wie ineinander zerfließende Kaleidoskope. Mein Kaffee versucht mich zu hypnotisieren wie ein Kaninchen, das er gleich verschlingen wird. Ein verwirrender Umstand, denn Kaffee versucht nichts, schon gar nicht Hypnose, und Merith ist kein Kaninchen. Ich verliere mich exakt 42 Sekunden weiter im Milchwirbelbild meines Morgengetränks und erinnere mich dann daran zu blinzeln. Ich bin kein Kaninchen. Manchmal sieht mein Kaffee morgens aus wie eine Fotografie in Sepia. Irgendwelche Wolken, Wüste vielleicht, ab und zu ein Baum oder eine Atomexplosion. Von Zeit zu Zeit Gesichter. Und ich versuche sie zu erkennen, vor allem die Gesichter. Mein Kaffee ist wie ein Röhrenfernseher, bei dem das Bild irgendwann einfach verschwindet. Ich beuge mich vor, bis meine Nasenspitze fast den Tassenrand berührt und atme tief ein. Nicht befriedigend. Die Unterarme auf den Tisch gestützt, rutsche ich noch weiter vor. Meine Nasenspitze tippt gegen die Kaffeeoberfläche, wirft kleine Wellen. Dann habe ich das Gefühl, jemand zieht einen Reisverschluss über meinen Rücken auf, hoch vom Nacken bis runter zum Steißbein, genau an der Linie entlang, auf der meine Wirbelsäule liegt. Und ich bin mir nicht sicher, was danach geschieht. Meine Augenlider wiegen ein paar Tonnen, und es ist heiß. Heiß und trocken. Ich glaube, ich schwebe. Ich schwebe? Mein Schädel pocht. Eines Morgens ließ sich Merith von ihrem Kaffee hypnotisieren und wurde in ein Milchstrudelbild verhext. Warum? Fragt sie sich nicht, obwohl sie ein Mensch war. Kafka wäre stolz. Äußere Situation: Merith liegt mit dem Gesicht neben der umgekippten Kaffeetasse und schläft. Auf der Tischdecke breitet sich ein bedenklich großer Kaffeefleck aus, der vermutlich nie mehr aus dem honiggelben Stoff herausgehen wird. Innere Situation: friedlich und entspannt. Als ich aufwache ist es kurz nach sieben. Auf dem Küchentisch meine umgekippte Tasse, das Tischtuch hat sich vollgesogen und ist kalt und nass. Mein Gesicht fühlt sich sehr zerdrückt an. Ich bin über dem verdammten Frühstück eingepennt. Ich taste nach meinem Handy. Sieben verpasste Anrufe, alle von einer Person. Dann eine SMS. "Wo bist du, Merith?" Ich tippe langsam und lese den Text dann mit leicht geöffnetem Mund drei- oder viermal durch: "Ich bin in meinen Kaffee gefallen und war ein Milchstrudel, so wie Gregor Samsa ein Käfer war." Das kann ich nicht so abschicken. Mein Gehirn reagiert zu langsam, zu träge, um die automatisierte Daumenbewegung zu stoppen. Gesendet. Ein paar Sekunden nichts. Zugestellt. Noch mal Stille. Gelesen. Zappelnde Pünktchen. Meine Bürokollegin schreibt. … … … "Okay." Ich stelle mir dieses „Okay“ als einen überforderten, müden, vielleicht sogar gereizten Seufzer vor. Jetzt ist sie offline. Ich stehe auf, verschwende einen Blick aus dem Fenster, nur um festzustellen, dass es regnet. „Ich bin in meinen Kaffee gefallen und war ein Milchstrudel, so wie Gregor Samsa ein Käfer war“, summe ich und habe irgendwie ein schlechtes Gewissen, weil ich mich so ausgeschlafen fühle. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es sich in anderen Welten besser lebt. Andere Welten. Neuwelten. Traumwelten. Weltenflucht. Weltensucht. Ich widerstehe dem Drang, noch mehr Wörter zu schaffen und überlege lieber, warum es sich in anderen Welten besser lebt. Kafka kann mich mal. Mein gefütterter Anorak sieht vorwurfsvoll aus, als ich erst zum Schal greife und mir dann eine andere Jacke greife. „Sorry“, murmele ich. Die Tür fällt hinter mir ins Schloss. Sorgenfrei. Ich glaube, ich hätte den Anorak doch anziehen sollen. Der Regen hat schätzungsweise 4,2°C. Tatsächlich habe ich keine Ahnung wie kalt der Regen wirklich ist, aber im Dezember hat die Nordsee an den kältesten Badeorten diese Temperatur, und ich mag die Nordsee nicht, deshalb stelle ich die Assoziation her. Sorgenfrei oder wenigstens noch sorgenselbstbestimmend. In einer Traumwelt, einem Szenario, das ich mir ausdenke, kann ich die Probleme selbst bestimmen, denen ich mich stellen muss. Und wenn ich keine haben will, habe ich eben keine. Ich kann die Tür nicht abschließen. Schlüssel vergessen. Ich hab mich ausgesperrt. Etwas unschlüssig stehe ich vor der verschlossenen Haustür und gucke auf die dunkle Außenseite der Linse meines Türspions. Mist. Ein Problem, das ich jetzt nicht hätte, wenn ich eben nicht über das Aussuchen, Ausdenken oder Abschaffen von imaginären Problemen philosophiert hätte. Was lernt Merith daraus? In gewissen Fällen sind fremde Welten und alle Vorteile, die sie mit sich bringen, ziemlich unvorteilhaft. Jetzt würde ich gerne zurück in meinen Kaffee. Wieder ein Milchstrudel sein und einfach gar nichts hinterfragen. Ich stopfe die kalten Finger in die Taschen und träume mich zurück. Äußere Situation: kalt. nass. Schlüssellos. Vermutlich auch bald arbeitslos, wenn Merith hier noch länger steht. Innere Situation: Milchstrudel.