ANNIKA BABUSCHKIN (11. Klasse):
Kurz vor dem Ende des Daches sprang der dunkle Schatten des Diebes vor ihm in die Luft und flog für einen Moment über die Dächer der Stadt. Mit aller Kraft sprang er ihm ein weiteres Mal hinterher. Seine Tuchmaske war ihm im Gesicht verrutscht, und so war er für die Dunkelheit nun erkennbar. Der Schatten hob erneut in die Lüfte, doch genauso schnell fiel er wieder. Er war vom Dach gesprungen. Etwas entriss ihm den Halt. Verzweifelt versuchte er einen Ziegel, eine Lücke, eine Rinne, irgendetwas zu greifen, das ihn vor seinem sicheren Verderben bewahren sollte. Sein Körper fiel wie eine leblose Puppe über das Dach. Und doch fiel er länger als er zunächst gedacht hatte. Er hätte längst auf dem Boden aufkommen sollen, doch er fiel immer tiefer und tiefer. Die Dunkelheit umschloss ihn. In seinen Ohren hörte er die Stimme des Mannes. Es war dasselbe hämische Lachen, das er bei der Verfolgung stets im Kopf hatte. Wie ein Echo wurde es lauter und wieder leiser. Dann spürte er wieder etwas unter seinem Körper. Der Aufprall verschlug ihm den Atem. Alles in ihm schrie nach Ruhe, nur für eine Minute. Doch das konnte er nicht zulassen. Jede Sekunde, in der er sich seiner Umgebung nicht bewusst war, bestand für ihn Lebensgefahr. Endlich öffnete er die Augen. Seine Finger krümmten sich zusammen und ertasteten feine Sandkörner. Es waren schwarze, raue Körner. Er bekam wieder Kraft und konnte sich mühsam aufrappeln. Weit oben, so weit oben, dass er das Loch nicht erkennen konnte, trat ein wenig Licht ein, erhellte die Sanddüne, auf die er gefallen war. Mit zitternden Beinen tapste er langsam runter, doch er konnte nicht weitergehen. Das Licht war nicht stark genug und so sah er nichts als schwarzen Sand. Ob sich etwas Lebendiges im Schatten versteckte, was nur darauf wartete, dass er sich der Finsternis hingab? Er war in Lebensgefahr. Manchmal genoss er es förmlich, mit dem Leben zu spielen, sei es sein eigenes oder das der anderen. Da war sie wieder. Die Stimme des Mannes. Sie kam von rechts, von links, von überall. Ein nicht endendes Echo dieser ekelhaft rauchigen Stimme. Er schrie, doch sein Schrei verstummte in der Ferne. Es war kein Genuss mehr, es war verrückt. Er wollte wegrennen. Alles war besser, als diesem Lärm weiter standzuhalten. Seine Beine übernahmen die Kontrolle, und er begab sich ins Unbekannte. Der Sand gab unter seinem Gewicht nach und so stolperte er, doch er lief weiter. Je tiefer er in die Dunkelheit rannte, desto weniger hörte er das Lachen. Blindlings stolperte er über etwas größeres als Sand. Er kam im dreckigen Schlamm auf. Neben ihm lag ein weiterer Körper, entstellt und totgrau. Vor Schreck wich er zurück und stieß auf eine zweite Leiche, diese noch brutaler zugerichtet als die andere. Schmerzensschreie und Schlachtgebrüll erfüllten seine Ohren. Breite Männer in Metallrüstungen massakrierten sich gegenseitig mit blutigen Schwertern. Dabei unterschied gerade er sich von den anderen Kämpfern: Keiner außer ihm trug einen halb zerrissenen Umhang, jeder außer ihm trug eine vollständige Ritterrüstung und jeder bis auf ihn war mit Blut und Verletzungen übersehen. Hier galt das blanke Überleben. Also zückte er das Schwert der Leiche hervor. Allein seinen Reflexen hatte er es zu verdanken, dass er soeben einem Schwert ausgewichen war. Der Gegner brüllte wütend und holte ein zweites Mal aus. Geschmeidig blockte er ab und stieß den Fremden von sich, doch er sah, wie die Kräfte seines Gegners schwankten. Das Gewicht des Schwertes setzte ihm zu und sein Arm versagte. Den Moment der Pause nutzte er aus und durchbohrte die Brust. Dabei sah er zu, wie das Leben aus den Augen des Sterbenden wich und nur noch ein entsetzter, starrer Blick zurückblieb. Keuchend lächelte er. Diesen Moment sah er Tag für Tag. Es war für ihn ein Lob, wenn die Opfer mit einem schockierten oder gar entsetzten Blick starben. Das waren immer diejenigen, die es am wenigstens erwartet hatten. Doch die Freude wirkte kurz; plötzlich blieb ihm der Atem weg. Als er nach unten schaute, ragte die rotersäufte Schwertspitze aus seinem Bauch heraus. Bevor er realisieren konnte, was mit ihm eigentlich geschah, war das Schwert verschwunden. Beim zweiten Einstechen war die Wucht so enorm, dass er nach vorne fiel. Schwer atmend schreckte er hoch. Es war alles nur ein Traum. Die Schlacht, das Blut, der Kampf, er hatte nur schlecht geträumt. Doch etwas stimmte nicht: Er lag in seinem alten Bett im Kinderzimmer. Mehr als ein Jahrzehnt war vergangen, dass er das letzte Mal hier geschlafen hatte. Noch vom Traum benebelt, stand er auf und schwankte durch das Zimmer. Er hätte schwören können, dass er weit entfernte Schreie gehört hatte. Irgendwas spielte sich am Fenster ab. Noch nie hatte es mitten in der Nacht so eine rötliche Farbe angenommen wie jetzt. Verwirrt runzelte er die Stirn. Langsam schleifte er sich zu den bodenlangen Seidenvorhängen. Kurz darauf bereute er, die Vorhänge zur Seite gezogen zu haben. Der Horizont brannte in meterhohen Flammen, der Himmel hatte sich rot verfärbt. Die früheren Häuser vor seinem Fenster waren bis zur Asche abgebrannt. All das, was er mit seinen Kindesaugen gesehen hatte, war zerstört worden. Da hörte er sie wieder; die Stimme, diesmal tiefer und ernster als das bisherige Lachen. Sie klang so ruhig, während er weiterhin auf den Horizont blickte. „Willkommen im Land der Träume. Im Land des Sandes. Im Land der Geschichten.“ Das Fenster zersprang, Glasscherben fielen zu Boden. Die Flammen machten sich wie brennende Tentakel den Weg durch das Fenster frei und verschlangen alles, was sich in den Weg stellte. Mit großen Schritten versuchte er einen Abstand, eine gewisse Sicherheit, zwischen sich und die Flammen zu bringen. Doch er kam gegen die Wand. Wieder und wieder schlug er gegen sie, als würde sich jeden Moment etwas ändern. Er würde sterben, die Hitze stieg ihm zu Kopf. Nach dem dritten Schlag gab die Wand plötzlich nach, und er fiel. Was er zunächst für einen Traum gehalten hatte, war nun eine blanke Wiederholung. Er fiel durch die Dunkelheit und landete auf der schwarzen Sanddüne. Dieses Mal sah er ein Paar Stiefel, die nur wenige Zentimeter vor ihm standen. Verwundert wich er zurück und erkannte den dunklen Schatten des Mannes wieder. Überraschenderweise war der Mann deutlich kleiner als er, dafür geschickter und stärker. Die Kapuze verbarg das unbekannte Gesicht, doch trotz des Stoffes erkannte er das schelmische Lächeln, das ihn förmlich anfunkelte. Wie eine Katze schlich er um ihn herum und musterte ihn. „Willkommen im Land des Sandmanns“, hauchte er ihm ins Ohr. „Was meinst du?“ Die Augenbrauen des Mannes stiegen vor Verwunderung in die Höhe. „Bist du nicht beeindruckt? Von meiner Kraft? Von meiner Macht, die ich über dich hatte, als du dich so gefürchtet hattest?“ Der Mann schaute auf und plötzlich erkannte er ihn. Die Augen glühten in der Dunkelheit golden auf wie Scheinwerfer. Wie ein fallender Schleier, sah er dem Sandmann, dem Herr der Träume in die Augen. Alles in seinem Körper zitterte vor Angst. Der Sandmann amüsierte sich genüsslich an seiner Reaktion. „Oh ja, du könntest es sein.“ „Ich verstehe nicht“, erwiderte er kläglich. „Du hast etwas, was ich will, mein Junge.“ Jetzt war der Sandmann ihm so nah, dass er jede einzelne Goldschuppe erkennen konnte, die sich zusammen wie eine Maske über seine Augen zogen. „Was ist, wenn ich dir sage, dass du dem Tod ins Gesicht lachen kannst? Es kann dein Leben verändern, wenn du dich nicht mehr um dein eigenes sorgen musst. Wäre deine Arbeit nicht viel einfacher, wenn du nicht mehr getötet werden könntest?“ Er war ganz Ohr. „Ich könnte dir helfen.“ Der Sandmann blieb direkt vor ihm stehen. Seine goldenen Augen durchdrangen seine Seele. „Ich könnte dir meine Unsterblichkeit anbieten. Du wärst frei, du müsstest nicht mehr auf das Leben anderer leben. Wäre das nicht ein Traum?“ „Wo ist der Haken?“, fragte er. Verdutzt starrte der Sandmann ihn an. „Es gibt immer einen Haken bei sowas. Was muss ich dir im Gegenzug geben?“ „Ach, nicht viel“, sagte der Sandmann schulterzuckend. „Du hast das Privileg, das ich einst verloren habe. Du hast die Kraft zu sterben.“ Bis jetzt hatte er es noch nie als Kraft angesehen. Der Sandmann streckte ihm seine Hand entgegen. „Schenk mir deine Sterblichkeit, und ich mache dich unsterblich… mit allem drum und dran.“ Er überlegte. Er überlegte wirklich. Und schlug ein. „Mögen deine Träume dir zu Füßen liegen.“ Plötzlich konnte er sich nicht mehr lösen. Seine Adern leuchteten golden auf, genau wie die beim Sandmann. Der goldene Staub in seinem Gesicht verblasste, stattdessen bekam er Falten, die ihn wie einen gebrochenen Mann aussehen ließen. Verzweifelt versuchte er sich von seinem Griff zu befreien, doch vergeblich. Etwas fühlte sich in ihm anders an. Als hätte man etwas in ihm ersetzt. Der Mann ließ von ihm los. Mit gekrümmtem Rücken und zittrigen Händen konnte er sich kaum mehr auf den Beinen halten. Von oben löste sich dann seine Kapuze auf, dann sein Kopf, sein Oberkörper. Feine schwarze Sandkörner sammelten sich auf dem Boden zu einem Haufen, während der alte Mann sich auflöste, als hätte es ihn nie gegeben. Das Licht über ihm durchflutete den ganzen Raum. Er kniff die Augen zusammen. Es wurde eine riesige Landschaft sichtbar, der Sand verwandelte sich von einem dunklen Schwarz in ein leuchtendes Gold. Als seine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, erkannte er am Horizont ein riesiges Schloss, dessen Türme in den Himmel ragten. Dieses Werk strahlte pure Macht und Reichtum aus. Der Himmel war mit vielen flauschigen Wolken verziert, doch beim näheren Hinschauen erkannte er, dass sich in den Wolken Bilder abspielten. Bilder von fliegenden Tieren, Einhörnern und magischen Wesen; alles, was sich ein Kind je erträumen könnte. Er wusste, wer er nun war, und wer er sein unsterbliches Leben lang sein würde. Willkommen im Land des Sandmanns