HANNAH SCHRAMM (6. Klasse):
Ich wachte auf. Die Sonne schien! Mein Hunger war riesig, also rief ich: „Mama, Papa, ich habe Hunger!“ Eigentlich war ich schon zu alt dafür, trotzdem machte ich es gerne. Kurz nachdem ich gerufen hatte, kam ein Star angeflogen. Er trug einen Regenwurm im Schnabel. Nicht dass ihr euch wundert: Ich bin Matz, ein Star. „Guten Morgen Piep-Matz! Hier ist dein Frühstück.“ „Danke Papa“, sagte ich. Gerade als ich anfangen wollte zu essen, kam auch meine Mama angeflogen. „Guten Morgen, ihr zwei“, sagte sie. „Matz, wir müssen dir etwas erzählen. Wir hätten es dir längst erzählen müssen. In zwei Tagen fliegen wir wie jedes Jahr nach Afrika. Dort überwintern wir.“ „Ja, dort gibt es viele Insekten, und es ist viel wärmer“, stimmte ihr Papa zu. Ich war verwirrt. Wir fliegen nach Afrika, dem Land, von dem alle schwärmten? Ich war dieses Jahr erst geboren, deshalb bin ich noch nie in Afrika gewesen. Jetzt verstand ich auch, warum meine Lieblingskäfer nicht mehr da waren und warum der Schwarm so unruhig war. Als ich alles verdaut hatte, schrie ich laut: „Juhu! Ich fliege nach Afrika!“ Und hüpfte im Nest auf und ab. Meine Eltern lächelten, als sie mich sahen. Dann aber sagte Papa: „Es kann sehr gefährlich sein. Auf dem Weg gibt es starke Stürme, Vogelfang, Strommasten und Fressfeinde.“ Damit dämpfte er kurz meine gute Laune, doch schnell hüpfte ich wieder auf und ab. Die Zeit verging wie im Flug. Alle aßen noch mal richtig, um ihre Fettreserven aufzufüllen und wir Jüngeren fragten unsere Eltern nach Afrika aus. Ich sollte früh schlafen gehen, um fit zu sein. Obwohl ich glaubte, nicht einschlafen zu können, schlief ich im Nu und träumte von Afrika. Das Erste, das ich am nächsten Morgen hörte, war die Stimme meiner Mama: „Raus aus den Federn, Piep-Matz! Auf nach Afrika!“ Als ich das hörte, sprang ich auf: „Afrika, ich komme! Aber ich will meine Federn behalten.“ Erst sah Mama verdutzt drein, doch dann lachte sie: „Matz, mit Raus-aus-den-Federn meinte ich Aufstehen. Das sagen manche Menschen.“ Wir frühstückten schnell und putzten unsere gepunkteten Federn. Dann flogen wir los! Es war ein wunderbares Gefühl, zwischen all den Staren zu fliegen. Überall hoben Menschen die Finger, zeigten auf uns, machten Fotos oder riefen „Gute Reise“ und „Grüßt Afrika von mir“. Der Himmel war blau und die Wolken sahen aus wie Zuckerwatte. Ich flog durch eine, weil ich dachte, sie sei weich. Doch sie war nass und eklig. Nach etwa 100 Kilometern wollte der Schwarm kurz Rast machen. Wir landeten auf einem Feld und pickten oder wühlten in der Erde herum, um etwas Essbares zu finden. Ich jedoch schaute mich um und lief hierhin und dorthin. Es gab so viel Interessantes. Nach einer halben Stunde flog der Schwarm wieder los. Der Himmel war jetzt nicht mehr blau, sondern grau. Der Anführer rief so laut, dass alle es hören konnten: „Ein Sturm zieht auf, aber wir müssen weiter. Passt auf, dass ihr nicht davon geweht werdet!“ Der Wind packte mich immer wieder heftig und zerrte an mir. Es war schwer, nicht weggeweht zu werden. Ich musste all meine Kraft in meine Flügel setzen. Plötzlich kam ein harter Windstoß von hinten, er packte mich und schleuderte mich in Richtung Boden. Ich war so erschöpft, dass ich nicht dagegen ankämpfen konnte. Ich konnte nur noch rufen: „Hilfe! Mama, Papa, rettet mich! Hilfe!“ Meine Stimme wurde leiser und leiser, bis sie schließlich verstummte. Ich fiel dem Erdboden entgegen und sah, wie der Schwarm weiterzog. Danach sah ich gar nichts mehr. Als ich wieder zu mir kam, schauten mich drei Augenpaare an. Die Köpfe, die zu den Augen gehörten, waren grau und ab und zu gurrte einer von ihnen. Tauben! Plötzlich schrie der kleinste: „Hey Leute, er ist wach!“ Sofort fragten die anderen beiden wild durcheinander: „Geht es dir gut? Hast du dich verletzt? Wie bist du hergekommen? Wie können wir dir helfen? Wie heißt du?“ Das war ein bisschen zu viel für mich, und ich konnte nur mit Mühe die Tränen aufhalten. Nach ein paar Minuten antwortete ich: „Ja, nein, durch einen Sturm, gar nicht, Matz. Wer seid ihr? Wo bin ich?“ Der Kleine antwortete: „Ich bin Micki und das sind Sabine und Hans, meine Eltern. Du bist im Taubenturm auf der Wartburg. Du musst eindeutig an deiner Einstellung arbeiten: Jedem kann man irgendwie helfen.“ „Micki, sei nicht so unhöflich! Wie oft sollen wir es dir noch sagen!“, schimpfte Sabine. „Sorry, ist ja schon gut, ich hab´s verstanden“, murmelte Micki. Hans fragte mich: „Willst du uns genauer erzählen, wie du hergekommen bist?“ Eigentlich wollte ich Ruhe, aber ich wusste über Tauben, dass sie so lange fragten, bis sie alles erfahren hatten. Also erzählte ich. Danach war es für kurze Zeit ruhig. Ich wartete ab, was sie sagen würden, vielleicht so was wie „Tut mir echt leid!“ oder „Herzliches Beileid!“. Wieder sprach Micki zuerst: „Krasse Geschichte, aber leider passiert das oft. Zum Beispiel vor einem Jahr, vor drei Jahren, und dieser verrückte Vogel, der einen Vogel hatte, vor vier Jahren.“ Bei seinen letzten Worten tippte er sich an die Stirn. Hans sagte: „Micki, der Vogel hatte keinen Vogel, er war sehr nett. Aber jetzt zu dir, Matz. Ich mache dir ein Angebot, das ich jedem mache, der hierher kommt. Willst du bis zum Frühling im Taubenturm bleiben und wenn dein Schwarm wiederkommt, zu ihnen zurückkehren oder willst du alleine in der Wildnis sein, dich irgendwie durchschlagen, bis du einen qualvollen Tod stirbst?“ Sabine schimpfte: „Hans, du machst dem Jungen Angst. Wir hatten doch abgesprochen, das mit dem Tod wegzulassen! Erinnerst du dich an den Vogel, der ohnmächtig wurde, als du ihm das erzählt hast?“ Micki rutschte näher an mich heran und flüsterte, um seine Eltern nicht zu stören, die immer noch stritten: „Sorry, meine Eltern sind etwas verrückt. Aber sie sind nur besorgt um dich und wollen dir helfen. Also, was ist deine Antwort?“ Er sah mich erwartungsvoll an. „Ich glaube, ich bleibe erst mal im Taubenturm“, antwortete ich mit heiserer Stimme. Ich wollte zwar eigentlich nicht bei Micki und seinen durchgeknallten Eltern bleiben, sondern meinem Schwarm nachfliegen. Doch ich wusste, dass das dumm wäre. Micki schien sich zu freuen, dass ich blieb. Er sagte immer noch ziemlich leise: „Cool! Ich kann dir alles zeigen.“ Micki sprach jetzt lauter, damit seine Eltern ihn hörten: „Mama, Papa, ich zeige Matz die Wartburg, denn er will bleiben.“ Schon flogen wir los. Die Wartburg war schön und ziemlich groß, doch für meinen Geschmack gab es zu viele Touristen. Am Abend flogen wir zum Taubenturm, um zu schlafen. Ich brauchte ziemlich lange um einzuschlafen und wurde dann von Alpträumen geplagt. Jeden Morgen flog ich nach dem Aufwachen sofort zum Turm der Wartburg, um Ausschau zu halten. Ich machte mir Mut, dass man mich bestimmt suchen würde. Micki war Spätaufsteher, er kam nach, und wir spielten Fangen und Verstecken um den Turm herum. Ich hielt egal, was ich tat, Ausschau. Am dritten Tag sah ich eine schwarze Wolke am Himmel. Schnell flog ich zum Taubenturm, um nicht wieder weggeweht zu werden. Ich wartete auf den Regen. Doch es geschah nichts. Als ich nach draußen linste, war da die schwarze Wolke. Doch es war keine Wolke! Es war mein Schwarm. Er war zurückgeflogen, um mich zu holen! Schnell breitete ich meine Flügel aus und flog ihm entgegen. Schon von Weitem rief ich so laut, wie ich nur konnte: „Hier bin ich!“ Ich freute mich so sehr, dass ich fast abstürzte. Meine Eltern flogen mir entgegen und als wir uns trafen, umarmten sie mich fest und sagten immer wieder: „Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Ich bin so froh, dass es dir gut geht!“ Schließlich meinten sie, dass wir schnell weiter müssen. Ich antwortete: „Ich muss mich kurz von Micki und seinen Eltern verabschieden. Sie haben sich um mich gekümmert.“ Wir flogen zu dritt zu ihnen und als ich sie meinen Eltern vorstellte, bedankten sie sich überschwänglich bei Mickis Eltern. Ich verabschiedete mich von Micki. Dann schwangen wir uns in die Luft und machten uns auf den Weg nach Afrika. Nach ein paar Tagen konnte ich in der Ferne etwas Glitzerndes erkennen. „Mama, was ist das?“, fragte ich. Sie antwortete: „Das ist das schwarze Meer. Da fliegen wir nur dran vorbei. Warte aber, bis wir über das Mittelmeer fliegen.“ Unser Schwarm musste ganz schön schnell fliegen, um die Verzögerung wieder reinzuholen. Mir war das fast etwas zu schnell. Am Abend suchten wir uns einen geschützten Ort und schliefen dort. Ich wartete jeden Tag darauf, dass wir über das Mittelmeer fliegen. Das dauerte so lange! Nach ein paar Tagen war es soweit. Noch nie hatte ich etwas so Schönes gesehen. Es glitzerte im Sonnenlicht und es war hellblau. Leider waren wir am Ende des Tages schon wieder weit entfernt vom Meer. Aber meine Eltern sagten mir, dass wir die Arabische Wüste durchqueren und dann über das Rote Meer fliegen würden. In der Wüste war es heiß. Ich war froh, als wir das hinter uns hatten. Dann kam das Rote Meer. Mir war egal, ob ein Meer schwarz, rot oder mittel war. Ich fand sie alle schön. Leider lag auch dieses Meer viel zu schnell hinter uns. Ich hätte ewig dort bleiben können. Plötzlich sagte Papa: „Willkommen in Afrika!“ Das war so cool! Jetzt waren wir bestimmt bald am Ziel! Nach vielen, vielen Tagen waren wir endlich angekommen. Die letzten Tage waren ermüdend, denn wir mussten wegen der Berge echt hoch fliegen. Als wir ankamen, schrieen Leute: „The starlings are back!“ und „They are late!“ Es war ein schönes Gefühl. Alle Leute lachten und freuten sich, als wir kamen. Ihretwegen flogen wir eine Extrarunde über der Stadt. Ich sah fremde Tiere, die waren groß und grau und hatten einen langen Rüssel statt eines Schnabels. Sie hoben ihre Rüssel und trompeten ganz laut. Ich glaube, sie haben sich auch gefreut uns zu sehen. Unser neues Nest war schön und sogar ein bisschen bequemer als das in Göttingen. Es gab auch ganz andere Käfer. Die schmeckten so lecker, das könnt ihr euch gar nicht vorstellen! Abends im Bett murmelte ich im Halbschlaf: „Ich bin angekommen. Ich bin in Afrika!“