RAMONA KRÜGER (12. Klasse):
„Schau mal, da ist sie wieder. “ „Es ist Hochsommer, wieso trägt sie das immer noch?“ Das waren nur zwei der Kommentare, die Kaida heute morgen zu hören bekommen hatte. Und es waren noch die harmlosesten, wenn man die letzten Monate betrachtete. Und es waren schon die absurdesten Theorien entwickelt worden, warum sie jeden Tag einen weiten, schwarzen Umhang trug. Sie selbst hielt es kaum darunter aus, hier in der Sonne, bei dreißig Grad. Aber es war besser, wenn niemand ihr Geheimnis kannte. Anfangs hatte sie es noch unter weiter Kleidung verbergen können, doch es war schnell zu groß geworden. Und so schleppte sie sich Tag für Tag durch diese Hölle namens Schule. Kaida stand abseits der anderen, ihren Koffer neben sich und den Umhang fest um ihren schlanken Körper geschlossen. Ein warmer Sommerwind fuhr ihr durch die hüftlangen, roten Haare und erinnerte sie daran, warum sie diese Ausgrenzung hinnahm. Der Wind war ihr Freund und er ließ ihre Stimmung innerhalb weniger Sekunden steigen, egal wie schwer der Tag zuvor gewesen war. Und egal, wie schwer die folgende Woche auf Klassenfahrt auch werden würde, sie würde auch diese überstehen. Der Bus fuhr auf den Schulhof ihres Gymnasiums. Von dort aus würden sie über Göttingen nach Frankfurt fahren, und dann in einem Flugzeug nach Schottland. Es könnte eine herrliche Woche werden, wenn sie alleine dort wäre. Nur war sie es nicht. Obwohl sie sich so fühlte, denn als der Bus sich mit ihren Mitschülern füllte, blieben die Sitzplätze in ihrer Umgebung leer. Und so sah sie aus dem Fenster, beobachtete, wie zunächst noch die ländliche Gegend an ihr vorbeizog und dann der Asphalt der Autobahn unter ihr lag. Kaida hatte lange überlegt, ob sie diese Reise überhaupt antreten sollte. Es war ein Risiko, und sie konnte nicht sagen, dass sie sich auf eine Klassenfahrt freute. Aber ihre Mutter hatte gemeint, es könne schließlich nicht sein, dass sie sich vollständig abgrenze, nur weil sie sich damals einen langjährigen Traum erfüllt hatte. Vielleicht hätte sie damals noch ein drittes Mal überlegt, ob sie es wirklich wollte. Vielleicht hätte sie das, wenn sie gewusst hätte, wie ihr Leben danach aussehen würde. Aber sie hatte es nicht gewusst, und ihre Entscheidung war nicht mehr umkehrbar. Es war auch besser so, denn sonst wäre diese Klassenfahrt ein Desaster geworden. Als sie nach gut zehneinhalb Stunden endlich am Hotel ankamen, verzog Kaida sich sofort in ihr Einzelzimmer. Bei der Zimmereinteilung hatte sich jeder geweigert, sie aufzunehmen. Sie hatten ihrem Lehrer eindeutig gesagt, dass sie eher auf die Klassenfahrt verzichten würden, als mit ihr in denselben vier Wänden schlafen zu müssen. Kaida vermutete, dass sie übertrieben hatten. Eine Fahrt nach Eyemouth in Schottland würden sie sich nicht entgehen lassen. Aber abgesehen davon, traute sie ihnen alles zu. Aber so weit war es ja zum Glück nicht gekommen. Sie hatte ihr Einzelzimmer und somit hatten alle ihre Ruhe. Langsam packte sie ihr Gepäck aus und verstaute es in den Schränken. Sie hatte all das mit, was auch die anderen dabei hatten: Kleidung, Hygieneartikel, Schuhe... und einen zweiten Umhang. Er war nicht wie normale Umhänge. Er bestand aus zwei separaten, dicken Schichten. Eine äußere, die man beim Tragen sah, und eine größere innere Schicht, die mit einer Schnalle versehen war. Sie hatte ihn selber verändert, damit er ihren Bedürfnissen entsprach. Den zweiten, den sie gerade trug, ließ sie weiterhin an. Zwar waren die Gardinen zu, und auch ihre Tür hatte sie abgeschlossen, aber an fremden Orten fühlte sie sich einfach nicht wohl. Die ersten Tage verliefen so, wie Kaida es sich vorgestellt hatte. Es regnete viel, nur selten kam die Sonne zum Vorschein. Wenn sie in der Gruppe unterwegs waren, hielt sie sich im Hintergrund und versuchte, sich an der Umgebung oder den Attraktionen zu erfreuen, die sie besuchten. Das Schloss war atemberaubend und sogar das Denkmal war nicht so langweilig, wie sie gedacht hatte. Allerdings hatte sie Probleme, als sie in Gruppen die Innenstadt erkunden durften. Niemand wollte mit ihr kommen. Und so blieb sie alleine bei ihrem Lehrer und unterhielt sich mit ihm. Er war wirklich nett und behandelte sie nicht anders, als er es vorher getan hatte. Genau das respektierte sie am meisten an ihm. Die Nachmittage, die sie zumeist im Hotel verbrachten, waren immer wieder eine Herausforderung für sie. Die anderen trafen sich in ihren Zimmern und machten eine Party, während sie alleine war und las. Es waren Fantasiegeschichten, die mochte sie am meisten. Gerade ging es um einen Jungen, der in eine andere Welt gelangte und dort ein Geheimnis aufdeckte. Sie wäre jetzt auch gerne in einer anderen Welt und nicht hier, auf... „Sind alle da?“ fragte ihr Lehrer und riss Kaida somit aus ihren Gedanken. Sie musste definitiv aufhören, an die unschönen Stunden der vergangenen Tage zu denken. Denn heute würden sie zum Meer fahren. Aber nicht an den Strand, sondern an eine Klippe, die für Touristen ausgelegt war. Und pünktlich zu diesem Ausflug schien die Sonne. Dem Lehrer schallte ein vielstimmiges „Ja!“ entgegen, und erneut stiegen sie in einen Bus und fuhren los. Es dauerte zum Glück nicht lange, bis sie endlich ankamen. Sie hielten an einem Wald und dessen typischer Geruch wurde durch den Regen der vergangenen Tage noch verstärkt. Gemeinsam folgten sie einem Trampelpfad, der sie zur Klippe führte. Es war schlammig und rutschig, schon nach wenigen Metern waren Kaidas Schuhe die reinste Sauerei. Aber für den Ausblick hatte es sich allemal gelohnt. Am Horizont fuhren einige Schiffe über das Meer, unter ihnen schlugen Wellen gegen die Klippen und einige hundert Meter weiter brüteten Möwen und Basstölpel an den Felswänden. Und über all dem lag das stete Heulen des Windes. Mehrere ihrer Klassenkameraden waren wie auch sie überwältigt und rannten sofort an den Rand, um hinunterzusehen. „Geht nicht zu weit nach vorne!“ rief ihr Lehrer, doch niemand hörte auf ihn. Stattdessen traten immer mehr an den Rand und spuckten hinunter. Und dann geschah das Unausweichliche. Kaida bemerkte es zuerst. „Geht weg da!“ rief sie, doch ihre Warnung kam zu spät. Ein Teil der Klippe gab unter dem Gewicht eines Jungen nach und fiel in die Tiefe. Die meisten konnten sich noch retten, als immer mehr Erdbrocken abbrachen, doch der Junge schaffte es nicht rechtzeitig. Er rutschte weg und verschwand schreiend in der Tiefe. „Elias!“ Ihr Lehrer rannte auf den Abgrund zu, blieb in sicherer Entfernung stehen und spähte vorsichtig nach unten. Und dort hing er, nur eine glitschige Baumwurzel in der Hand. „Holt mich hier raus!“ schrie Elias verzweifelt und sah panisch nach unten. Der Wind peitschte die Wellen noch immer gegen die Felsen, einen Sturz würde er nicht überleben. Sofort organisierte ihr Lehrer eine Menschenkette aus den drei stärksten Jungs ihrer Klasse. Er selber legte sich auf dem Bauch an den Rand und streckte seine Hand nach Elias aus, während die anderen ihn an den Füßen festhielten. Doch er kam nicht heran und unter ihm brachen weitere Brocken ab. „Reich mir deine Hand!“ Elias reckte sich, doch er schaffte es nicht und rutschte noch ein Stück weiter an der Wurzel ab. „Ich kann mich nicht mehr lange halten!“ Seine Stimme klang panisch und erstickt. Er hatte selber keine Hoffnung mehr, den Tag zu überleben. Kaida stand abseits der anderen und konnte nicht glauben, was gerade geschah. Es dauerte viel zu lange, bis sich ihr Gehirn wieder einschaltete und sie wusste, was sie zu tun hatte. So schnell es ging, öffnete sie ihren Umhang und schälte sich auch aus der zweiten Schicht. Darunter: Ihr Geheimnis. Zwei Federschwingen, groß und braun und stark genug, sie in die Luft zu tragen. In diesem einen Moment waren ihr die Meinungen ihrer Mitschüler egal. Sie musste Elias retten, und wenn sie danach als Monster abgestempelt wurde, dann war das eben so. Und so verschwendete sie keinen zweiten Gedanken, schmiss ihren Umhang auf den Boden und rannte auf die Klippe zu. Erst als sie über den Rand sprang, bemerkte die anderen sie. „Kaida, nicht!“ Doch ihr geschah nichts. Sie entfaltete ihre Flügel und der Wind fuhr darunter und trug sie, wohin sie wollte. Sie flog zu Elias und blieb vor ihm in der Luft stehen. Sein Gesicht wäre zu jedem anderen Zeitpunkt Gold wert gewesen, doch gerade verschwendete sie daran keinen Gedanken. Sie streckte ihre Hand zu ihm aus, um ihn zu packen und wieder auf sicheren Boden zu bringen, doch genau da rutschte er ab und fiel noch weiter in die Tiefe. Kaida reagierte schnell, ließ sich fallen und packte ihn rechtzeitig am Handgelenk. Sein Gewicht zog sie kurz gefährlich weit in die Tiefe, doch dann fing sie sich und schaffte es, ihn nach oben zu ziehen. Dort wichen die anderen vor ihnen zurück, damit Kaida landen konnte. Elias sank sofort kraftlos auf dem Boden zusammen, starrte sie aber weiterhin fassungslos an. Als das Adrenalin jetzt langsam aus ihrem Körper wich, bemerkte Kaida die Blicke der anderen in ihrem Rücken. „Also das hast du darunter versteckt.“ Der Satz kam von ihrer ehemaligen Freundin, und Kaida nickte. „Ich bin eine Testperson der Uni Göttingen. Sie hatten es mir bei meinem Praktikum letztes Jahr angeboten und ich habe angenommen.“ Sie zuckte mit den Achseln, wollte und durfte auch nichts genaueres über das Projekt erzählen. „Damit wären wohl all unsere Theorien falsch.“ Es waren inzwischen mehrere Wochen vergangen, seit sie von der Klassenfahrt zurück waren. Kaida versteckte sich nun nicht mehr und zeigte, wer sie wirklich war. Die Geschichte, wie sie Elias das Leben gerettet hatte, war wie ein Lauffeuer durch die Schule und dann durch die ganze Region gegangen. Sogar die Nachrichten hatten mit ihr Kontakt aufgenommen. Es war praktisch unmöglich geworden, sich zu verstecken. Aber sie fand es besser so. Denn nun war sie frei. Und obwohl sie noch immer in der gleichen Welt lebte, fühlte sie sich, als hätte sie eine neue Welt entdeckt. Eine neue Welt, in der sie sein konnte, wer sie wirklich war. Ende