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HENRI HALLER (5. Klasse):


Kira


Ich wachte mit den Sirenen auf. Sofort war ich auf den Beinen. Noch etwas verschlafen, blickte ich mich in meinem Zuhause um. Schon hörte ich meine Mutter die Treppe hoch stapfen. „Putin hat angegriffen!“, rief sie. Entsetzt blickte ich sie an. Ein weiterer Krieg in dieser Welt. „Komm, schnell, nimm deinen Koffer und geh in den Bunker. Die anderen sind schon da“, fügte sie auf meinen fragenden Blick hinzu. Ich trödelte nicht. Mit meinem Notfallkoffer in der Hand rannte ich die Treppe runter. Der Bunker war auf der anderen Seite des Dorfes. Während ich lief, hörte ich, wie hinter mir eine Bombe einschlug. Ich rannte schneller. Als ich beim Bunker ankam, kletterte ich die Leiter runter und kam in einen spärlich beleuchteten Raum. Unten warteten schon alle, und ich ging durch die Tür. Weiter hinten im Raum sah ich meine beste Freundin Manja. „Kira!“, rief sie und nahm mich erleichtert in den Arm. Der Raum war hübscher als erwartet. Die gelb gestrichenen Wände sahen einladend aus, es gab mehrere Sofas, Stühle und zwei Tische. An der Wand war eine Kiste mit Decken und Kissen, und die Küche war nebenan. Ich setzte mich neben meinen Bruder Vitalij und begann schon zu reden: „Wir wurden angegriffen. Ich kann es immer noch nicht fassen!“ „Beruhige dich“, sagte Vitalij zu mir. „Wir werden sehen, Kira. Vielleicht hört der Krieg bald auf.“ Doch er sah selbst nicht überzeugt aus. Meine Müdigkeit trieb mich wieder ins Bett, und ich ging in den Raum nebenan. Ich suchte mir eine Klappliege aus, legte meine Decke drauf und legte mich mit meinem Schlafsack auf die Decke. Die Tage strichen dahin, und es war ein karges Leben. Es gab nur wenig zu essen, und es war kalt. Durch den Angriff war nichts mehr so wie früher. Ich befand mich in einer neuen Welt. Oft herrschte Streit zwischen Manja und Vitalij. Sie stritten sich häufig um alltägliche Dinge. So auch heute. „Du kannst essen, was du willst, doch sollst du auch aufpassen, wie viel du nimmst“, hörte ich Vitalij sagen. „Ich nehme mir so viel, wie ich will. Du musst mir gar nichts sagen“, entgegnete Manja mit einer Spur von Schärfe. „Und warum mache ich das wohl?!“, brüllte Vitalij. „Damit die anderen was kriegen!“ Ich ging ins Zimmer. Manja brüllte gerade Vitalij an, doch ich ging dazwischen. „Stopp!“, rief ich, während Manja auf Vitalij losrannte. Manja stolperte. Und dann geschah etwas Wundersames. Es war, als ob ein silberner Mantel Manja umschloss. Von Manja ging eine Wärme aus, die die angespannte Stimmung im Bunker friedlicher werden ließ. Meine Mutter Lesja kam um die Ecke und starrte ungläubig auf Manja, die immer noch festsaß. Langsam wich der feindselige Ausdruck aus Manjas Gesicht und der Mantel löste sich in Luft auf. Manja machte einen Schritt auf Vitalij zu und streckte ihm die Hand hin. „Entschuldigung“, sagte sie und blickte Vitalij fest in die Augen. „Tut mir leid wegen vorhin. Ich hätte dich nicht angreifen sollen.“ Sie wandte sich mir zu. „Danke, Kira.“ „Entschuldigung“, murmelte nun auch Vitalij und blickte offenbar aus Verlegenheit auf den Boden. „Nächstes Mal streitet ihr euch nicht wegen solcher Sachen. Wir haben gerade Krieg und müssen zusammenhalten“, sagte meine Mutter, die anscheinend alles mitbekommen hatte. Lesja sah mich an und bedeutete mir, mit ihr in eine Ecke zu gehen. „Was ist passiert?“, fragte sie mich. „Vitalij und Manja haben sich gestritten“, fing ich an. „Gerade als Manja auf Vitalij losging, bin ich dazwischengegangen. Als ich ,Stopp‘ rief, kam irgendetwas aus mir hervor. Es war wie eine Welle. Ich fühlte mich mit einem Mal ganz ruhig. Viel ruhiger als zuvor, und dann kam etwas aus meiner Hand. Wärme und Ruhe flossen aus meinen Fingern und sammelten sich wie ein silberner Mantel um Manja herum. Und den Rest weißt du.“ Lesja blickte mich nachdenklich an. „Geh ins Bett“, sagte sie. „Ich werde darüber nachdenken.“ Ich drehte mich um und ging zu meinem Schlafplatz. Schnell schlief ich ein. In der Nacht träumte ich von vielen Streitereien, und ich musste zu jeder einzelnen eilen, um alle zu versöhnen. Aus diesem unruhigen Traum wurde ich mal wieder von Sirenengeheul geweckt. Alle schreckten hoch, und ich hörte erschöpfte Stimmen. Meine Mutter kam auf mich zu und setzte sich neben mich. „So kann es doch nicht weitergehen. Immer mehr Familien verlieren ihr Zuhause und werden auseinandergerissen. Viele sterben von uns. Daher habe ich nachgedacht. Erinnerst du dich noch an gestern?“, fragte sie mich leise. Ich nickte. Plötzlich erbebte die Erde und es gab einen lauten Knall. Liegen rutschten durch den Raum, und ich hielt mich an der Wand fest. Auf der anderen Seite sah man die Wände flackern. „Es brennt!“ Erschrocken sah ich mich um. Manja lief mit einem Feuerlöscher zum anderen Raum. „Vielleicht kannst du uns dabei helfen, Putin zu besiegen“, fuhr meine Mutter fort. „Wir sind hier drin gefangen. Draußen sind die Soldaten und hier brennt es jetzt. Wenn du mit deiner besonderen Gabe den russischen Soldaten Ruhe und Wärme schenkst, kehrt hier vielleicht endlich wieder Frieden ein, und wir können entkommen. Ich weiß, dass es nicht leicht werden wird. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob es klappt. Aber es scheint unsere einzige Chance. Wenn wir eins in den letzten Monaten gelernt haben, dann ist es, dass wir immer optimistisch bleiben müssen. Du darfst nicht daran denken zu scheitern. Was meinst du? Fühlst du dich dazu bereit? Ich würde dir beistehen.“ Ich dachte nach und spürte in mich hinein. Und dabei merkte ich, wie in mir eine Kraft aufstieg, und ich nickte. Wieder erbebte der Bunker. Langsam rieselte Mörtel runter. Meine Mutter rief: „Alle mal herhören. Ich muss euch etwas sagen. Wir merken alle gerade, dass der Bunker nicht mehr lange halten wird. Wenn wir alle an Kira glauben, kann sie uns retten.“ In ihrer Stimme war so viel Gewissheit, wie man sich nur vorstellen konnte. „Wir gehen gleich raus und versuchen abzuhauen. Ein paar Kilometer weiter wird ein Rettungshubschrauber sein. Vitalij, du gehst voran.“ Alle gingen Vitalij hinterher. Die Morgenluft war kühl und frisch. Wir sahen die grün-braunen Soldaten schnell näher rücken. Mein Herz schlug schneller. Plötzlich blieben alle stehen. Ich wusste nicht wie ein Krieg ablief, und es war ein merkwürdiges Gefühl. Mein Hals fühlte sich trocken an. Immer schön positiv denken, versuchte ich mir einzureden. Es half nichts. Ich fühlte mich so klein und hilflos. Alle Hoffnung ruhte auf mir, doch ich wusste nicht, was ich tun sollte. „Angriff!“ Der Ruf riss mich aus meinen Gedanken. Lesja kam zu mir gelaufen und blickte mich stärkend an. „Du schaffst es, Kira“, sagte sie beruhigend zu mir. Bei der Erwähnung meines Namen blickte ich sie an. Danach ließ ich den Blick über das Gelände streifen. Keiner hielt sich mehr an Lesjas Worte. Statt zum Hubschrauber, liefen alle in verschiedene Richtungen. Erste Schüsse fielen. Als mein Blick zu Vitalij kam, der sich seine blutende Hand hielt, brach Wut, aber auch ein bisschen Hoffnung durch mich durch. Ich konnte es schaffen. Ich musste es schaffen. „Stopp!“, rief ich. Nichts passierte. Doch dann kam wieder dieses Gefühl. Eine merkwürdige Ruhe schien durch mich durch zu rieseln. „Stopp!“, rief ich erneut. Eine Welle der Kraft ging durch meinen Körper und schoss aus meiner Hand hervor. Wie eine silberne Decke legte sie sich über alle und ließ sie erstarren. Eine merkwürdige Stimme war in meinem Kopf. Man muss verstehen, sagte sie. Man muss verstehen, was man tut, dann kommt man frei. Der Gesichtsausdruck der Menschen veränderte sich, doch sie blieben noch erstarrt. „Hört mir zu“, sagte ich. „Es ist nicht richtig, was ihr tut. Ihr seid auch Menschen und ihr solltet unser Zuhause nicht stehlen. Es ist an der Zeit zu reden.“ Die silberne Decke löste sich langsam auf und fast alle Gesichter waren freundlich. Nur ein Gesicht war zornverzerrt. Der Soldat richtete seine Waffe auf mich, doch ein anderer nahm ihm die Waffe ab. „Wir gehen zurück!“, rief jemand und schon waren alle weg. Nach ein paar Wochen kam wieder ein Hubschrauber und brachte Nahrung. Der Pilot ging auf mich zu und drückte mir eine Zeitung in die Hand. „Dachte mir, könnte dich interessieren“, sagte er zu mir und ich fing an zu lesen: „Weiterer Widerstand gegen Putin. Die Proteste gegen Putin in Russland werden immer stärker. Immer mehr Soldaten protestieren gegen Putin. Die Polizei in Russland geht weiterhin mit Gewalt vor. Die Demonstranten blockieren Autobahnen, Straßen und Firmen.“ Wahrscheinlich haben sich auch die Soldaten von unserer Gegend den Protesten angeschlossen, dachte ich. Reden hat uns gerettet, ging mir durch den Kopf, und in dieser Ecke der Ukraine ist ein bisschen mehr Frieden eingekehrt.