Partner im RedaktionsNetzwerk Deutschland

ELLEN VAN OTERENDORP (6. Klasse):


Auf Reisen


Es gab einen mächtigen Luftschwall, als die Presse aufschlug. Es dampfte. Dann wurde sie wieder hochgefahren. Es piepte dreimal kurz, während unter ihr das Fließband weiterfuhr. Das war die Geburt von Knalli. Der Plastiktüte mit der Produktionsnummer 1428. Sie dampfte noch ein wenig und war etwas zerknittert. Doch war sie eine gut geratene Standard-Tüte. Während das Fließband immer weiter fuhr, erwachte Knalli und sah sich um. Weit hinter sich konnte sie die Presse sehen, wie diese immer wieder von der Decke herunter zischte. In dem gewaltigen Luftdruck schlackerten Knallis Henkel. Das Fließband fuhr dahin. Doch plötzlich sackte der Boden unter ihr weg. Sie plumpste in eine Kiste. Kaum hatte sie sich von dem Schreck erholt, landete eine andere Tüte auf ihr. Und noch eine und noch eine. Das Gewicht auf Knalli wurde immer drückender. Durch eine Ritze konnte sie sehen, wie der Deckel geschlossen wurde. Dann wurde es dunkel. Mehrere Tage mussten vergangen sein, bis Knalli wieder aufwachte. Sie lag immer noch zusammengepresst in ihrem düsteren Karton. Es rumpelte. Die Plane des Lkws flatterte. Sie konnte Autos hören, die vorbei rasten. Langsam döste Knalli wieder ein. Als sie erwachte, war der Lärm der Straße verschwunden. Dafür hörte sie ein Ratschen. Der Deckel wurde geöffnet. Schlagartig wurde es hell. Eine Hand fasste hinein und griff sich einen Stapel Tüten. Knalli wurde von dem Mann, dem die Hand gehörte, an eine Stange gehängt. Dort hing sie nun. Zusammen mit 34 anderen Tüten. Knalli sah sich um. Sie war in einem Supermarkt gelandet. In den Regalen stapelten sich Obst, Gemüse, Back- und Schreibwaren ... Schon bald wurde der Laden geöffnet. Die ersten Leute kamen und gingen. In der Mittagszeit wurde es dann voll. Sie döste ein, bis sie von der Stange gezogen und mit Süßigkeiten vollgeschaufelt wurde. Es war ein kleines, blondes Mädchen. Während sie Knalli fest in der kleinen Faust hielt, wurde sie von ihrer Mutter energisch zur Kasse gezogen. So kam Knalli in den Haushalt der Familie Holzer. Dort sah sie aber erstmal nur das Kinderzimmer. Hier saß die kleine Lilli oft auf ihrem Bett, mit Knalli auf dem Schoß und knabberte die Süßigkeiten aus dem Supermarkt. Als sie, die Tüte, schließlich leer war, warf Lilli sie in einen staubigen Winkel der Küche. Und Knalli wurde vergessen. Viele Wochen musste sie dort liegen. Bald bekam Knalli eine Hausstaub-Allergie und nieste in einem fort. Irgendwann wurde sie dann von der Mutter aufgefegt und in den gelben Sack gestopft. Dort lag sie dicht an dicht mit einer stinkenden Fischverpackung. Im gelben Sack wurden sie nach draußen gestellt. Dort holte sie schon bald die Müllabfuhr ab. In diesem Auto ruckelten sie davon. Bis Knalli es nicht mehr aushielt. Bei einem Stopp, schlüpfte sie durch ein Loch des Sackes. Und flatterte vom Wagen. Ein Windstoß ergriff sie und wehte sie fort, bis sie auf einer Autobahn landete. Der Fischgeruch war endlich weg! Knalli trieb immer weiter auf der Autobahn. Der Wind wehte sie hier hin und dort hin. Sie sah rote, grüne und gelbe Autos. Sie zählte die roten von ihnen. Doch bald waren es nur noch graue, fette Autos die an ihr vorbeibrummten. Ihre Abgase schwirrte Knalli um die Ohren und verschlechterten die Sicht. Die Wochen zogen vorbei. Manchmal geriet sie unter ein Auto. Dann zog sich über Knallis Bauch eine schlammige Reifenspur. Das konnte sie gar nicht leiden! Sie schimpfte lange hinter dem Auto her. Schließlich machte der nächste Regen sie wieder sauber. So verfloss die Zeit... Die Autos wurden weiß. Sie zischten geräuschlos an Knalli vorbei. Als Knalli einmal aus einem sehr langen Schlaf erwachte, surrte es über ihr. Das waren die neuen Luftschiffe. Von da an gab es nur noch dieses Surren. Nach ein paar Jahren tauchten dann Maschinen auf, die anfingen, die Straße aufzubaggern. Während Knalli noch verwundert zuschaute, wurde sie schon von einer Maschine zusammen mit Asphalt und Erde auf die Schaufel genommen und in einen Container verladen. Mit der nächsten Schaufel, die über ihr entleert wurde, konnte Knalli nichts mehr sehen. Doch nach Tagen wurde es wieder hell. Da wurde der Container nämlich auf einer riesigen Deponie neben einem großen Wald ausgeschüttet. Knalli roch Fisch. Anscheinend war auch die alte Fischverpackung hier gelandet. Hoffentlich musste sie nicht lange hierbleiben. Und tatsächlich: am nächsten Tag fegte ein Sturm über die Deponie. Und nahm Knalli mit. Sie flog immer weiter von der Deponie fort. Quer durch den Wald. Alles war grün. Die jungen Bäume wackelten im Wind. Die alten Bäume knarrten. Ein Falke streifte sie. Knalli liebte den Wald, viel lieber als Landstraßen und Städte. Sie hopste im Wind. Der Sturm wurde stärker. Er hob sie in die Luft, und sie flog flatternd zwischen den Bäumen hindurch bis hinauf in die grünen Wipfel. Knalli genoss den Flug. Da ließ der Wind wieder nach. Sie schwebte nach unten. Doch wenige Meter über dem Waldboden ging es nicht mehr weiter. Sie war mit den Henkeln an einem Ast hängengeblieben. Knalli ruckelte und zappelte, doch der Baum wollte sie nicht freigeben. Als es dämmerte, gab sie sich mit ihrer Lage zufrieden. Sie schaukelte im Wind. Als es dunkel war, konnte sie am schwarzen Nachthimmel die Sterne zählen. Diese funkelten und blinkten wie die Straßenlaternen. Doch die Nacht ging vorüber. Und so auch die nächsten Tage, ...Monate, ...Jahre, ...Jahrzehnte. Manchmal surrte ein Luftschiff-Taxi an ihr vorbei. Doch sonst war Knalli allein. Sie genoss die Ruhe und schaukelte an ihrem Ast hin und her. Doch irgendwann nach vielen Jahren wurde es Knalli sehr langweilig... Da krachte der Ast ab. Er war in all den Jahren morsch geworden. Sie war wieder frei! Jetzt konnte der Wind sie tragen, wohin er wollte. Und das tat er auch. Viele Jahre lang. Doch dann hörte er auf zu blasen. An der Küste des Indischen Ozeans fiel Knalli, wortwörtlich, aus allen Wolken. Sie kniff die Augen zu und machte sich ganz klein. Doch zu ihrer grenzenlosen Verwunderung ging sie nicht unter! Sie schwamm auf der Wasseroberfläche, als wäre sie ein kleines Boot. Da kam von hinten ein kräftiger Windstoß. Er trieb Knalli auf den Wellen ins Meer hinaus. Sie blickte sich um. Der Strand wurde immer kleiner. Dann war er weg. Und auf einmal war Knalli ganz allein auf dem weiten, weiten Meer. Sie trieb über die Wellen und schaukelte im Wind. Die Zeit verfloss. Sie sah viele Länder und Städte. Mehrere Jahre schwamm Knalli nun schon auf dem Meer. Plankton lagerte sich an ihr ab. Sie wurde etwas grünlich. Auch die kleine Lili, der Staub der Autobahn und der Wald hatten ihre Spuren an Knalli hinterlassen. Längst war sie nicht mehr so sauber wie einst. Allerdings traf sie auch immer seltener eine andere Tüte, mit der sie sich hätte vergleichen können. Knalli ging es gut. Doch eines Tages wurde Knalli von hohen Wellen an einen Strand geschwemmt. Hier wachte die Roboterdame X03 über die Sicherheit der Badegäste. Als sie das grünliche, durchsichtige Ding im Sand entdeckte, hielt sie Knalli für eine tote Qualle. Dieses schlechte Zeichen konnte nur bedeuten, dass eine Person in Seenot war! X03 düste zu Knalli, verstaute sie in ihrem geräumigen Bauch und fixierte mit den Kameraaugen die Wasseroberfläche. Als sie nichts endeckte, zog sie sich wieder zurück. Eine Woche musste Knalli nun in ihrem Gefängnis bleiben. Meistens schlief sie. Dann wurde X03 abgelöst. Als sich ihre Bauchklappe öffnete, ergriff ein Windstoß Knalli und trug sie fort. X03 raste hinterher, wurde aber bald abgehängt. Knalli landete sacht auf einem Grasbüschel. Sie wachte auf - und war perplex: Überall brummte und summte es. Bienen, Hummeln und Schmetterlinge flogen geschäftig durch die Gegend. Ein süßlicher Duft von Löwenzahn, Tulpen, Apfel- und Kirschblüten lag in der Luft. Hoch über ihr surrten die Luftschiffe und -taxis. Und in den vielen Bäumen saßen Vögel, die fröhlich zwitscherten. Die Häuser sahen nicht groß verändert aus. Doch als Knalli sie genauer musterte, fielen ihr doch einige Unterschiede auf. Die Häuser, die hier standen, waren alle miteinander weiß gestrichen. Sie hatten große Fenster. Diese konnte man unterschiedlich behandeln, sodass sie entweder die innere oder äußere Wärme abblocken konnten - je nachdem, ob man es drinnen wärmer oder kühler haben wollte. Auf den Flachdächern wucherten hohes Gras, Blumen und Sträucher. Zwischen den Häusern verliefen schmale Pfade, auf denen man zu Fuß kürzere Strecken zurücklegen konnte. Knallis Blick schweifte über diese absonderliche Großstadt. Und blieb an einem heruntergekommenen Gebäude hängen. Es war grau und kastenförmig angelegt. Hohe Schornsteine ragten in den Himmel. An vielen Stellen war die Mauer schon heruntergekommen. Das Ganze glich einer Ruine. An einem Schild vor dem Grundstück stand: Betreten verboten: Einsturzgefahr! Eltern haften für ihre Kinder! Doch trotz allem erkannte Knalli ihre Fabrik wieder! Hier war sie vor gut hundert Jahren als Plastiktüte mit der Produktionsnummer 1428 hergestellt worden. Und nun war sie also anscheinend die letzte Plastiktüte, die es hier noch gab... „Herrje!“ dachte Knalli. Da wurde etwas auf sie zugeweht, das entfernte Ähnlichkeit mit einem Beutel hatte. „Wat bist‘n du für‘n altes Ding?“, fragte es und stieß mit Knalli zusammen. „‘Ne Plastiktüte“, brummelte Knalli beleidigt. „Geil! Echt jetzt?“ Bert, der Beutel war sehr gesprächig. Das war nur gut, denn es war überhaupt das erste Mal, dass Knalli mit jemandem sprach. So erfuhr sie sehr vieles. Die neuen Beutel waren heutzutage also unbrennbar, unschmelzbar, unzerreißbar, unritzbar, größenverstellbar, selbstreinigend, wärmend oder kühlend und wasserfest. Sie wurden von Generation zu Generation weitervererbt. Extrem nachhaltig! Während Knalli all die Jahre um die Welt geweht war, wurden selbst die grauesten Großstädte grün und nachhaltig umgebaut. „Siehste ja!“, meinte Bert stolz. Ihr Gespräch wurde jedoch prompt beendet, als eine Frau Knalli entdeckte. „Iiihh!“ kreischte sie und fiel in Ohnmacht. Ein Mann kam ihr zu Hilfe, bemerkte Knalli, sperrte den Mund auf und vergaß die Frau. Die Menschentraube um Bert und Knalli wuchs. Knalli drehte sich der Kopf. „Locker bleiben.“, meinte Bert. Und postierte sich schützend vor sie. Da kam ein ganzes Luftschiff an. Die Leute zeigten mit Fingern auf Knalli. Sie wurde mitgenommen. Ihr drehte sich der Kopf immer schneller. Sie wusste ja nicht, dass sie eine richtige Sensation war. Eine echte, antike Plastiktüte. Die hatte man seit vielen Jahrzehnten nicht mehr gesehen. So kam es, dass Knalli, so zerkratzt, alt und müffelnd wie sie war, in dem persönlichen Luftschiff des Kanzlers zum Museum gebracht wurde. Sie war sicher verwahrt. Aus ihrem Kasten konnte sie hören, wie der Kanzler selbst vor dem Museum eine Rede über sie, die letzte verbleibende Plastiktüte hielt. Knalli schwoll die Brust. Das knisterte. Aber sie war stolz auf sich! Auf ihre Abenteuer und ihre Geschichte. Dann hob sich der Deckel ihres Kästchens und der Kanzler legte sie, höchstpersönlich im Saal für „ausgestorbene Utensilien“ behutsam in eine sichere Vitrine. Alle klatschten. Es wurde noch diskutiert und sich ausgetauscht, dann verließen sie nach und nach den Saal. Schon bald war Knalli allein. Sie lag in ihrem Panzerglaskasten und sah sich um. Hier sollte sie also für den Rest ihres Lebens bleiben? Nun gut! Doch ein Fünkchen Heimweh hatte sie nach den Zeiten, in denen es noch Millionen andere Plastiktüten gab... Ihr Stolz wurde kleiner. Doch das T-Rex-Skelett neben ihr zwinkerte ihr aufmunternd zu. Gleich fühlte sich Knalli ein bisschen wohler.