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MARIKE ACKERMANN (8. Klasse):


Verlassen


Ihr Vater nahm sie beide in den Arm, „Alles wird gut“, murmelte er in Kayans wuschel Kopf. Er löste sich von ihnen und gab Fenja einen Kuss auf die Stirn, „Lasst eure Handys an okay?“. Er ging ohne ein weiteres Wort. Sie rochen die Abgase die der Krankenwagen hinterließ, in welchen ihr Vater gestiegen war, sie hörten wie die Sirenen heulten, und sahen wie das Blaulicht anging. Ihre Mutter rochen , hörten und sahen sie nie wieder. Eine Woche lang hatte er mit niemandem geredet, eine Woche lang hatte sie sich zum Weinen in ihr Zimmer eingesperrt. Seit einer Woche war alles anders. Als sein Vater ihn mit seiner Schwester vor der Schule absetzte, kam es ihm wie eine ganz andere Welt vor. Ihm vielen keine Gründe mehr ein gerne hier zu sein, mit Freunden konnte er sich doch wo anders treffen. Nein an diesem Ort war er gefühlt die Hälfte seines bisherigen Lebens gewesen. Die Hälfte seines bisherigem Lebens hatte er mit Hausaufgaben und Lernen verbracht, nur um gute Noten zu schreiben, nur um eine gute Zukunft zu haben. Er hätte die Zeit lieber mit seiner Mutter verbringen sollen. Auf eine gute Zukunft konnte er im Moment scheißen, wie sollte „alles wieder gut werden“ wie es der Therapeut gesagt hatte? Nein er könnte einfach weglaufen. Weg von den ,dreimal darauf geschissenen, mitleidigen Blicken seiner Mitschüler, weg aus dieser beschissenen Stadt wo ihn doch jede zweite Ecke an seine tote Mutter erinnert .Wieso haute er nicht ab, seine Familie war zerbrochen, wer sollte ihn davon abhalten. Da fühlte er wie jemand seine Hand berührte, er zog sie weg. Seine Schwester ließ ihre Hand sinken. „ Wir machen dass hier zusammen OK? “, fragte sie. Als sie nebeneinander auf die Schule zu liefen, fürchtete sie schon den Moment wo ihr Bruder nach links abbiegen würde um zu dem Gebäude der Oberstufe zu kommen. Er war 16, sie erst 12. Ihre Augen waren Zielgerade auf den Boden gerichtet, um allen Blicken auszuweichen. Ihre Hände Klammerten sich um die Schnüre ihres Turnbeutels den sie so fest hielt als wäre das größte Geheimnis der Welt darin aufbewahrt. Ihr Geheimnis war, dass sie seitdem Verlassen ihrer Mutter, sich immer schlechter auf Dinge konzentrieren konnte. Sie war viel tollpatschiger als früher und hörte nie so richtig zu wenn jemand zu ihr sprach. Die Worte gingen in das eine Ohr rein und aus dem anderem wieder heraus. Den Therapeuten bei dem ihr Bruder und sie waren mochte sie nicht. Ihr Vater meinte sie solle jetzt jede Woche einmal dahin gehen. Was sollte dass bringen? Sie würde sich ihm nie wirklich nie öffnen können, schon allein weil er ein Mann war. Er bog nach links ab, sie ging geradeaus weiter. Als sie die Schule betrat blieb sie einfach in der Tür stehen, die anderen Leute quetschten sich an ihr vorbei streiften ihre Schultern und sagten dass, sie weiter gehen soll. Für sie war es aber irgendwie nicht möglich weiter zu gehen, zu viele Erinnerungen kamen in ihr hoch. Sie hatte sich doch vorgenommen stark zu bleiben, doch dem Druck hielt sie nicht stand. Sie schaute zum Schulkiosk, dort füllte der Hausmeister gerade die ganzen Süßigkeiten auf. Sie sah sich selber am ersten Tag an dieser Schule, ihre Mutter hatte mit ihr in der Schlange vor dem Kiosk gestanden und ihr einen Schokoriegel gekauft, sie hatte geweint ,da sie ihre Lieblingsbrotdose verloren hatte und ihre Mutter hatte sie immer wieder umarmt. Jetzt konnte ihre Mutter sie nie wieder in den Arm nehmen. Fenja begann zu weinen und hielt ihre Hände vors Gesicht, sie weinte lautlos, wieder und wieder gingen die Leute an ihr vorbei, schauten sie nicht an, bemerkten sie gar nicht. Nach einiger Zeit leerte sich die große Aula, der Schulgong läutete zum Unterricht. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, bog ab , ging die Treppen hoch und stand wenige Zeit später vor ihrem Klassenzimmer. Die Tür war schon geschlossen, sie drückte die Klinke runter und betrat das Klassenzimmer. Sie murmelte eine Entschuldigung und warf einen Blick auf den Stundenplan, ach ja sie hatten ja Mathe. Sie konnte die auf sich gerichteten Blicke nur so spüren, obwohl sie auf den Boden schaute. Sie steuerte auf ihrem Sitzplatz zu, doch da saß schon jemand. „Wir haben eine neue Sitzordnung“ ,sagte Frau Klar, „Du sitzt jetzt zwischen Lena und Ella.“ . „Frau Klar, ich finde es immer noch ungerecht dass, Ella, Lena und Fenja nebeneinander sitzen dürfen. Ich könnte meinen kleinen Bruder auch dafür umbringen, um mit Lars und Hakan nebeneinander sitzen zu dürfen. “rief Florian rein. „Halt die Klappe du Arschloch!“ Ihre Freundinn Lena legte schützend einen Arm um sie. Es wurde also allen erzählt, wieso? Konnte sie nicht wenigstens in der Schule zu ihrem normalen Leben zurück finden? Wenn das überhaupt noch möglich war. Einfach nicht weinen. Die sich ansammelnden Tränen verwischten die Konturen um sie herum, einfach nicht weinen. Auch für ihn war der Anfang schwer gewesen, auch ihm wurden mitleidige Blicke zugeworfen. Doch im war nicht nach weinen zumute gewesen, er hätte lieber alle angeschrien. Sie konnten ihn mal. Da sah er den Ball an sich vorbei flitzen, er schnappte sich ihn und warf ihn mit aller Kraft die er hatte auf den nächsten Menschen. Er bekam gar nicht mehr so genau mit wie der Junge hinter ihm, sein Gesicht qualvoll verzog. „Alter“, rief er, „Chill mal, es ist nur ein Spiel, ok keinen Grund so auszurasten.“, Kayan verdrehte seine Augen. Memme dachte er sich. Da kam sein Lehrer auf ihn zu, „Kayan wenn du das Gefühl hast gerade zu viel Wut in dir zu haben dann setzt dich bitte an den Rand, aber lass es nicht an deinen Mitschülern aus.“ ,sagte dieser. Was, einen Scheiß würde er tun, er ging vom Lehrer weg bereit sich den nächsten Ball zu schnappen, und irgendwen damit abzuwerfen. Am besten doppelt so hart wie vorher. Sie waren sich beide einig, es war eine neue Welt! Eine neue Welt ohne ihre Mutter. Eine neue Welt, in der sie mit ihrer Trauer und Wut umgehen mussten. Es veränderte sich die Sitzordnung in Fenjas Klasse, und die Art und Weise mit der man mit den beiden sprach und Kayans Umgang mit seinen Mitschülern, er wollte nie wieder jemanden nah an sein Herz kommen lassen, den jetzt wusste er wie leicht man es zerbrechen konnte. So vergingen, die Tage, und schließlich eine Woche. „Wir denken, dass du noch ein bisschen mehr Zeit brauchst um in deiner ähm, Situation besser zu recht zu kommen. Und wir denken daher dass du besser nochmal eine kurze Pause mit der Schule einlegst, vielleicht für ein bis zwei Wochen…“ , seine Klassenlehrerin schaute ihn durch ihre Brille durch dringlich an. „Aber wieso, ich finde meine beiden Kinder haben sich recht schnell wieder in ihren Alltag eingewöhnt. Ich sehe keinen Grund Kayan nochmal Schulfrei zu geben.“, sagte sein Vater. In Eile, wie immer. Ja natürlich war er wieder im „Alltag“ wie es sein Vater nannte angekommen. Der „Alltag“ den sein Vater beschrieb bestand nämlich aus, anschweigen beim Essen, kurze Absprachen und die Meidung der Wörter Mama, Mutter und Mom. Sein Vater machte so weiter als hätte es seine Mutter nie gegeben. Die Beerdigung war vor ein paar Tagen gewesen. Als er dann nach der Schule zu Hause angekommen war, waren alle Bilder die seine Mutter zeigten weg gewesen, sogar die aus seinem und Fenjas Zimmer. Er hatte seinen Vater gefragt wo die Bilder waren, der hatte darauf nur geantwortet, „Es ist besser sie nicht mehr zu sehen, glaub mir. Sie würden euch immer wieder wehtun.“ Wenn sein Vater probierte Witze zu machen und zu scherzen, lachte nie jemand. Noch nicht einmal er selbst. Ihr Vater selber hatte sich verändert, er sorgte immer noch gut für sie, doch er schien nicht wirklich zu wissen was sie jetzt brauchten, das wussten er und seine Schwester vermutlich selber nicht so genau. Das war also der „normale Alltag“, echt toll! Er konnte sich nicht mal mit ihm streiten. Er hatte es wegen der Bilder versucht, doch es hatte nicht geklappt. Sein Vater wurde ganz ruhig, während er ihn anschrie, dass hatte Kayan dann noch wütender gemacht. Es gab einfach keinen guten Ort seine Wut raus zu lassen, deswegen machte er es meistens ungewollt in der Schule. Deswegen meinten seine Lehrer er sollte nochmal Schulfrei kriegen. Er wusste nicht was schlimmer war, weiterhin in die Schule zu gehen wo er von jedem zweiten nur noch komisch angeschaut wurde, oder zu Hause zu bleiben wo es einfach nur trostlos war, und ihn alles an seine Mutter erinnerte. Ihm war es egal was sie entschieden, alles egal. Seine Familie, Schule, Freunde, egal! Er ging weiterhin zur Schule, sein Vater hatte sich durchgesetzt. Es hätte ihn überrascht wenn sein Vater es nicht getan hätte. Aber so blieb alles beim Alten. Er schwänzte weiterhin seine Therapeuten Stunden. Sie wurde weiterhin an vielen Stellen bevorzugt. Ihr Vater redete weiterhin nicht über ihre Mutter. Er bekam weiterhin Wutausbrüche. Sie war mit ihren Gedanken weiterhin irgendwo anders. Ihr Vater redete weiterhin wenig mit ihnen… Fenja schaute auf ihren Koffer. Noch war er leer, was sollte sie einpacken? Sie würde zwei Monate weg sein. Sie wünschte sich sie hätte den Mut ,den sie vor dem Verlassen ihrer Mutter gehabt hatte, mitnehmen können. Wo er jetzt wohl war? Machte er nur Urlaub? Würde er bald zu ihr zurück finden? Es würde sich wieder etwas ändern, ganz klar. Doch vielleicht würde es sich dieses Mal zum Guten ändern. Dieses Mal würde sie ihrer Mutter einen Platzt freihalten. Mit Bildern, Worten und Andenken. Sie hatte Zweifel aber auch Glaube. Sie hoffte dass die Kur auf die sie, ihr Vater und ihr Bruder fahren würden etwas ändern würde. Ihr Vater war bereit sich zu ändern, sonst hätte er den Vorschlag, eine Kur zu machen, abgeschlagen. Es würde anders werden, neu und seltsam. Doch solange sie eine Familie bleiben würden und wieder zu einander zurück finden würden, war das okay.