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ANNA MARIA GÖDEKE (11. Klasse):


Marie und ich


Marie war meine beste Freundin. Wir hatten uns mit 8 Jahren kennengelernt, als sie im Sommer mit ihrer Familie nebenan einzog. Gleich am ersten Tag hatte sie bei mir geklingelt und sich vorgestellt: „Hallo, ich bin Marie. Wollen wir Freunde sein?“ Begeistert von einer gleichaltrigen Spielgefährtin waren wir die ganzen Ferien durch den nahen Wald geturnt und hatten uns unsere eigene Welt geschaffen. Wir spielten, dass wir zwischen den Bäumen wohnten. Ich hatte irgendwann entschieden: „Wir brauchen einen Unterschlupf“, und wir bauten einen aus vielen Stöckern, das hatte sich Marie ausgedacht. Sie war geschickt und erfinderisch. Wenn Angreifer kamen, kletterten wir auf die knorrigen Bäume oder ich kämpfte gegen sie. Ich war damals ein Mädchen, das Stöcker und den Kampf (wenn auch mit unsichtbaren Feinden) mochte, während Marie eine war, die geduldig Blumenkränze für uns flocht und verrückte Geschichten von Drachen und Rittern erzählte. Nach den Ferien ging Marie in meine Parallelklasse. Das war sehr schade, viel lieber hätten wir im Unterricht nebeneinander gesessen und uns gegenseitig kleine Zettelchen mit geheimen Nachrichten zugeschoben. Wir verbrachten jede Pause miteinander, ich turnte auf den Klettergerüsten und Marie erzählte ihre fantastischen Geschichten. Nachmittags gingen wir zu unserem Unterschlupf. Im Herbst trafen wir uns bei Marie zu verrückten Teepartys mit ihren Kuscheltieren. Als wir doch einmal die Teeparty in mein Zimmer verlegten, hatte Marie darauf bestanden, meinem Häschenkuscheltier eine Uhr umzulegen, damit es nicht zu spät käme. „Wie kommst du darauf, dass Häschen die Uhr lesen kann“, hatte ich sie verwundert gefragt. Ich war nicht davon ausgegangen, dass Hasen diese Fähigkeit besaßen. „Das weiße Kaninchen bei Alice im Wunderland hat auch eine Taschenuhr“, hatte Marie daraufhin erklärt. „Aber ich habe keine“, hatte ich gesagt. Zu Weihnachten schenkte sie mir eine silberne Taschenuhr, die ich dem Häschen wie eine Kette umhängte. Im Frühling kehrten wir in unseren Unterschlupf zurück. Dort hatte sich im Winter eine Eichhörnchenfamilie eingenistet, die wir bei unserem Spielen aufscheuchten. So vergingen Jahre und wir blieben beste Freundinnen. Auf der neuen Schule waren wir endlich in derselben Klasse. In den langweiligen Stunden tuschelten wir hinter vorgehaltener Hand und kicherten, wenn die andere etwas sagte, das nur wir verstanden. Das Leben war schön, bis in der 10. Klasse Leon auftauchte. Leon war komisch. Er war stets still, schien nicht einmal zu atmen. Nie schaute er jemanden an, immer sah er etwas dicht vor seinen Augen, das nur er sehen konnte. Marie fand ihn faszinierend. „Er hat eine Geschichte“, sagte sie fest, und: „Ich will sie hören.“ Wahrscheinlich hatte sie recht, dass er eine Geschichte hatte. Aber sein verklärter Blick und seine stumme Miene waren abschreckend. Ich wollte die Geschichte nicht hören. Doch Marie ließ nicht locker. In den Pausen belagerte sie ihn. „Hallo Leon, ich bin Marie. Wo kommst du her?“ Ich wollte nichts mit Leon zu tun haben. Aber Marie war meine einzige Freundin, und ich glaubte nicht, dass meine Mitschüler sich mit mir abgegeben hätten. Ich war eine Fremde für sie und sie waren Fremde für mich. Ich hatte nur Marie und damit ich nicht allein sein musste, verbrachte ich die Pausen mit ihr - bei Leon. Er beachtete uns nicht, fokussierte immer etwas anderes. Es war, als könne er seine Augen nicht davon abwenden. Aber Marie hatte es sich in den Kopf gesetzt, ihm seine Geschichte zu entlocken. In den ersten Wochen zeigte der komische Junge keine Regung. Dass Marie keinen Erfolg hatte, ließ sie immer missmutiger werden, und ich glaubte, dass sie bald aufgeben würde. Doch eines Tages räusperte sich Leon. Es klang nicht wie ein Räuspern vor dem Aussprechen wichtiger Worte. Eher als wäre er genervt. Ich war inzwischen zu dem Entschluss gekommen, dass Leon verrückt war. Vielleicht war er psychisch krank oder in einem komaähnlichen Zustand, bei dem er alles verstand, aber keinerlei Kontrolle über sich hatte und sich darum nicht bewegte. Als er sich aber räusperte, wurde mir einiges klar. Es war die kalte Ignoranz, die er Marie gezeigt hatte. Er war sich zu fein, um mit ihr zu sprechen. Am liebsten hätte ich ihm ins Gesicht gespuckt, so angewidert war ich. „Gefällt es dir hier?“, hatte Marie gefragt, worauf er sein abfälliges Geräusch von sich gegeben hatte. Marie und ich tauschten einen Blick, ihrer aufgeregt, meiner missbilligend. „Ich liebe es, hier zu wohnen. Als ich herzog, war das wie ein Traum. Es ist so schön hier.“ „Ja, ein Traum“, sagte er abfällig. Marie sprang auf vor Glück. „Du sprichst!“, lachte sie. Dann sah er sie an. Er sah vielleicht das erste Mal überhaupt etwas an, das auch andere sehen konnten. Menschlicher wurde er darum nicht. Ich hatte Angst vor ihm und das Gefühl, Marie und mich beschützen zu müssen. Ich wollte einen Stock nehmen und den komischen Jungen bekämpfen, bis er verschwand, in die Welt, aus der er soeben aufgewacht war. Nein, bis er überhaupt verschwand. Ich wollte ihn nie wieder sehen. „Erzähl mir alles!“, forderte Marie. „Woher kommst du? Wer bist du? Wieso bist du so still?…“ Erwartungsvoll blickte sie ihm entgegen. „Nur weil ich spreche, erzähle ich noch lange nichts“, war seine einzige Antwort. Dann holte ihn wieder dieses Etwas ein, das seinen Blick in Anspruch nahm, und er versank in den Armen seiner anderen Welt. Auf unserem Heimweg sprach ich Marie auf Leon an. „Lass ihn in Ruhe. Ich mache mir Sorgen. Er wirkt gefährlich“, sagte ich und sagte vielleicht genau das Falsche. „Er ist allein und braucht einen Freund, das ist alles“, verteidigte sie ihn. „Dann soll er sich selbst einen suchen“, sagte ich trotzig. „Aber dafür ist er zu schüchtern, das sieht man doch“, widersprach sie. Es ergab keinen Sinn, mit ihr zu streiten. Was für sie schüchtern war, war für mich ignorant. Sie hatte Mitleid mit ihm. „Ich sehe nur nicht ein, warum du dir Mühe gibst, wenn du doch nichts dafür zurückbekommst“, murmelte ich. Sie schüttelte den Kopf und entgegnete: „Ich bekomme seine Geschichte.“ Wir standen vor ihrem Haus. „Bis morgen“, verabschiedete ich mich von ihr und überquerte den Rasen unseres Vorgartens bis zu meiner Haustür. Ich sah nicht zurück, doch konnte ihren verdutzten Blick in meinem Nacken spüren. Ich wollte nicht wie sonst mit zu ihr. Ich fühlte mich unwohl in ihrer Nähe. Sie erinnerte mich an Leon. Ich schloss meine Haustür auf und ging in das Haus hinein. Am nächsten Tag fühlte ich mich schlecht. Ich hatte Gewissensbisse, außerdem Magenschmerzen, als hätte ich etwas Verdorbenes gegessen. Nachdem ich gefrühstückt hatte, wurde es noch schlimmer, und ich musste mich übergeben. Wir riefen erst in der Schule und dann bei Marie an, dass ich wohl die nächsten Tagen zu Hause bliebe. Ich schlief viel und träumte fiebrig, ohne mich nach dem Aufwachen an den Traum zu erinnern. Es blieb nur das ungute Gefühl, dass ich im Traum etwas verloren und geweint hatte. Mein Gesicht war nach dem Schlaf jedes Mal tränenverklebt. Außerdem war mein Zeitgefühl völlig dahin. Ich taumelte nur vom Schlafzimmer ins Badezimmer und zurück, während mein Körper immer schwächer wurde. Eines Tages wachte ich auf, und die Schmerzen waren weg. „Du warst drei Wochen lang krank, unterschätz´ das nicht“, mahnten mich meine Eltern besorgt, als ich verkündete, wieder in die Schule gehen zu können. Doch ich war gesund. Morgens klingelte ich, wie ich es jeden Morgen getan hatte, bei Marie. Ich wollte sie in den Arm nehmen und ihr sagen, wie leid mir alles tat, dass ich sie lieb und vermisst hatte, und mit ihr zur Schule gehen wollte. Doch niemand öffnete die Tür. Vielleicht war Marie schon gegangen. Natürlich wusste sie nicht, dass ich wieder gesund war, doch trotzdem hinterließ das einen Stich in meinem Herzen. Ich machte mich alleine auf den Weg. In der Schule musste ich feststellen, vieles verpasst zu haben. Es war Marie. Als ich den Klassenraum betrat und erwartungsvoll zu ihrem Platz schaute, war er verwaist. Suchend sah ich mich um und entdeckte sie ganz hinten im Raum. Sie hatte sich zu Leon umgesetzt und bemerkte mich nicht. Mir drehte sich der Magen um. Konnte ich ihr vorwerfen, sich umgesetzt zu haben? Immerhin hätte sie sonst drei Wochen lang alleine gesessen. Aber die Tuscheleien mit Leon konnte ich nicht verzeihen. Ich stellte meine Sachen ab und ging zu ihr. „Hallo Marie“, sprach ich sie an. Sie sprach unbeirrt weiter, abgewandt von mir mit Leon. Ich stand da wie Falschgeld. „Hallo Marie!“, wiederholte ich lauter. Keine Antwort. „Sie hört dich nicht“, sagte Tess, die in der Nähe saß und meine gescheiterten Versuche, Marie auf mich aufmerksam zu machen, bemerkt hatte. „Sie hört schon seit zwei Wochen niemanden von uns“, meinte Lars, der in der Reihe davor saß. Ich hatte das drängende Gefühl, sie vom Gegenteil überzeugen zu müssen. Ich tippte Marie auf die Schulter. Sie erstarrte mitten in der Bewegung, angespannt, als sei ihr jegliche Berührung fremd. „Marie“, flehte ich. Nun drehte sie den Kopf und sah mir in die Augen oder in etwas davor. Sie sah furchtbar aus. Ihr Gesicht war leichenblass, ihre Lippen aufgesprungen, ihre Haut papierdünn. Ihre Züge wirkten härter, ihre Augen blickten kalt und leer. Sie schien mich nicht zu erkennen. Erst war ich erschrocken über ihren Anblick, dann voller Hass. „Was hast du mit ihr gemacht“, zischte ich aufgebracht und stürzte mich auf Leon. Tränen traten mir in die Augen, während ich versuchte, ihn zu erwürgen. Stumm verzog er seine Lippen zu einem unheilvollen Lächeln. „Er hat mir die einzig wahre Geschichte erzählt, die es gibt“, hörte ich Maries Stimme hinter mir. „Ich sehe alles neu. Unsere Welt ist ein Trugbild, und das weißt du.“ „Was erzählst du bitte, Marie!“, rief ich und kämpfte mit heftigen Schluchzern. „Du bist genauso verrückt wie Leon! Er hat dich angesteckt!“ Auf einmal wurde ich gepackt und weggezogen, jemand löste meine Finger von Leons Hals. Ich strampelte wild um mich, konnte weder oben noch unten einordnen. Ich sah nichts. Nichts war hell und dunkel zugleich.